Veröffentlicht am: 28 November 2025

Was sind der Kerbschlagversuch und der Kerbschlagwert?

Stahl wird bei sinkenden Temperaturen spröder und damit auch rissanfälliger. Um die Sicherheit von Stahlbrücken, Gebäuden und verschiedenen Konstruktionen bei unterschiedlichen Temperaturen zu gewährleisten, wird in den technischen Unterlagen meist die Anforderung für Kerbschlagwerte wie JR, J0 und J2 gestellt. Diese Werte werden mit einem Kerbschlagversuch ermittelt und bestimmen die Zähigkeit des Materials.

In diesem Artikel erklären wir, was all diese verschiedenen Begriffe bedeuten.

Was ist Zähigkeit?

Die Zähigkeit ist eine Materialeigenschaft, die etwas über die Fähigkeit einer Stahlsorte aussagt, sich unter Belastung zu verformen, ohne zu reißen oder zu brechen.

Zur Verdeutlichung: Die Begriffe „spröde” und „zäh” sind Gegensätze:

  • Sprödes Material bricht relativ leicht ohne Verformung. 
  • Zähes Material bricht relativ schwer und verformt sich dabei stark.

Das folgende Beispiel veranschaulicht die Unterschiede:

  • Glas ist spröde, da es schnell bricht und eine Bruchfläche ohne Verformung hinterlässt. 
  • Karamellriegel sind zäh, weil sie langsam brechen und wirklich doppelt geknickt werden müssen.

Idealerweise ist Stahl etwas zäh, damit er nicht so schnell bricht.

Bei Raumtemperatur ist Stahl jedoch bereits recht spröde. Und je kälter Stahl wird, desto spröder wird er. Bauen wir Gebäude, Konstruktionen oder Brücken im Freien, dann machen die niedrigeren Temperaturen den Stahl automatisch spröder.

Zurück zu dem Karamellriegel. Bei Raumtemperatur lässt er sich leicht in zwei Hälften brechen. Aber wenn der Riegel einen Tag lang im Gefrierschrank gelegen hat? Dann kann man ihn auf dem Tisch zerschlagen. Das ist der Einfluss der Temperatur auf die Zähigkeit.

Deshalb ist es sinnvoll, im Voraus zu wissen, wie „spröde” eine bestimmte Stahlsorte bei bestimmten Temperaturen ist. Das können wir mit einem Kerbschlagversuch herausfinden. 

Was ist der Kerbschlagversuch?

Kerbschlagversuch

Mit einem Kerbschlagversuch (auch Charpy-V-Notch-Test genannt) wird gemessen, wie viel Energie erforderlich ist, um einen Teststab zu zerbrechen. Das Ergebnis dieses Tests wird mit dem Kerbschlagwert angegeben. Dies ist eine Zahl, ausgedrückt in +/- Joule.

Bei 27 Joule liegt eine allgemein akzeptierte Grenze. Wenn der Wert niedriger ist, betrachten wir das Material als spröde. Ist der Wert höher, wird das Material als zäh angesehen.

NB: Stahl mit einem Kerbschlagwert von 26 Joule ist also nicht per Definition spröde, aber weniger zäh als Stahl mit einem Kerbschlagwert von 27 Joule.

Sprödes Material bricht schneller und benötigt dafür weniger Energie. Zähes Material bricht schwerer und benötigt dafür mehr Energie.

Die Temperatur beeinflusst die Kerbschlagzähigkeit von Stahl. Deshalb wird die Kerbschlagprüfung bei unterschiedlichen Temperaturen durchgeführt. Dies führt bei Stahlqualitäten zu den Abkürzungen (und Bedeutungen) in der folgenden Tabelle.

Abkürzung Bedeutung
JR Die Kerbschlagarbeit beträgt mindestens 27 Joule bei 20 °C.
J0 Die Kerbschlagarbeit beträgt mindestens 27 Joule bei 0 °C.
J2 Die Kerbschlagarbeit beträgt mindestens 27 Joule bei -20 °C.
J3 Die Kerbschlagarbeit beträgt mindestens 27 Joule bei -30 °C.
J4 Die Kerbschlagarbeit beträgt mindestens 27 Joule bei -40 °C.
J5 Die Kerbschlagarbeit beträgt mindestens 27 Joule bei -50 °C.
J6

Die Kerbschlagarbeit beträgt mindestens 27 Joule bei -60 °C.

Wie ist dies zu interpretieren? 

Wenn die Anforderung gestellt wird, dass eine Stahlsorte bei einer bestimmten Temperatur eine ausreichende Zähigkeit aufweisen muss, können Sie ablesen, welche Bezeichnung die Stahlsorte haben muss.

Muss der Stahl bei 20 °C eine ausreichende Zähigkeit aufweisen? Dann ist eine Qualität mit der Bezeichnung JR ausreichend. Muss der Stahl bei -20 °C eine ausreichende Zähigkeit aufweisen? Dann ist eine Qualität mit der Bezeichnung J2 ausreichend.

Für Konstruktionen in Deutschland ist das fast immer ausreichend. Für Brücken in Norwegen liegt die Messlatte deutlich höher. Dort werden Temperaturen von bis zu -50 °C gemessen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass man dort schnell zu einer Stahlqualität von J4 oder J5 greift. 

Brücke in Norwegen

NB: Hier werden auch die Bezeichnungen NL1 und NL2 berücksichtigt, aber um den Rahmen dieses Blogs nicht zu sprengen, gehen wir darauf jetzt nicht näher ein.

Warum hält ein J2 -20 °C aus und ein JR nur 20 °C?

Obwohl sie derselben Stahlqualität zugeordnet sind, gibt es eine Reihe von Gründen, warum ein J2 zugeordneter Stahl für niedrigere Temperaturen geeignet ist und ein JR nicht.

Der wichtigste Grund hängt mit der Reinheit des Materials zusammen. Ein geringerer Gehalt an Schwefel (S) und Phosphor (P) sorgt für weniger Einschlüsse und damit gibt es weniger Ausgangspunkte für Sprödbruch.

Theoretisch können auch die Mikrostruktur des Materials (mehr oder weniger feinkörnig) und die Prozesskontrolle während des Walzens und Abkühlens einen Einfluss haben. In der Praxis ist die Mikrostruktur eines J2 jedoch nicht unbedingt feinkörniger als die eines JR. Eine Prozesskontrolle ist somit immer erforderlich, um eine passende Stahlqualität zu gewährleisten.

Die Norm im Vergleich zu einer Bauverordnung

Bauvorschriften oder andere technische Spezifikationen verlangen manchmal eine J-Kennzeichnung für Bleche, die 5 mm oder dünner sind. Gemäß EN 10025 ist die Kerbschlagprüfung jedoch nur für Bleche mit einer Dicke von 6 mm oder mehr vorgeschrieben. Bei dünneren Blechen kann die Prüfung nicht mehr zuverlässig durchgeführt werden, da der kleinste Kerbschlagbiegeprüfstab eine Größe von 55 x 5 x 5 mm hat. Dieses Format ist für die Prüfung nicht mehr geeignet. In einem solchen Fall fehlt die J-Kennzeichnung häufig auf dem Materialzertifikat.

In der Praxis wird dies allgemein akzeptiert. Technisch gesehen weisen dünnere Bleche mindestens die gleiche Kerbschlagzähigkeit auf wie dickere Bleche desselben Stahltyps. Administrativ wird jedoch keine J-Kennzeichnung hinzugefügt. Dies führt in Projekten manchmal dazu, dass ein Konstrukteur erkennen muss, dass eine strenge Anforderung aus der Bauverordnung nicht überprüfbar ist.

Kurz gesagt: Das Fehlen einer J-Kennzeichnung bei dünneren Blechen bedeutet nicht, dass das Material nicht zäh genug ist, sondern lediglich, dass die Kerbschlagprüfung nicht durchführbar (und somit auch nicht vorgeschrieben) ist.

Fragen?

Haben Sie noch Fragen zum Kerbschlagversuch, zum Kerbschlagwert oder zur Kerbschlagzähigkeit? Dann nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf.

NB: Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit MCB verfasst.

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